Nichts tun müssen

Du kennst doch sicher auch die Stimme in dir, die dir jeden Tag den ganzen Tag lang immer wieder sagt, dass du etwas tun musst. „Du musst einkaufen gehen! Wenn übermorgen der Besuch kommt, musst du vorbereitet sein.“ Du hast keine Lust zum einkaufen gehen, tust es aber trotzdem. „Wenn dir dein Chef sagt, dass du diese Arbeit machen sollst, dann musst du es tun! Ob du willst oder nicht.“ Dir hängt aber sowohl dein Chef als auch diese Arbeit beim Hals heraus. „Du musst noch ein Geschenk für deinen Partner kaufen. Er hat übernächste Woche Geburtstag!“

Im Kontext des Erwachens kommen dann noch viele, viele weitere Anweisungen von dieser Stimme. „Wenn du erwachen willst, musst du schon etwas tun dafür.“ Je nachdem, welche spirituelle Strömung dich anspricht, kommt dann eine Fülle von Dingen, die du tun musst. „Du musst heute Yoga machen. Morgen auch. Du musst jeden Tag Yoga machen.“ Oder: „Du musst meditieren.“ Ich habe aber heute keine Lust auf meditieren. „Mach es! Danach fühlst du dich besser.“ Ja, stimmt, also meditierst du.

„Du musst lernen, deine Wünsche und Bedürfnisse nicht so wichtig zu nehmen. Der göttliche Wille ist wichtiger.“
„Du musst viel schlafen.“
„Du musst weniger schlafen.“
„Du musst mehr Rücksicht auf andere nehmen.“
„Du musst darauf achten, dass es dir gut geht,“
„Reiner empfiehlt Reden und Schreiben als eines der wichtigsten Hilfsmittel im Erwachen. Du musst jetzt jeden Tag mindestens eine halbe Stunde mit dir selbst reden!“
„Du musst staubsaugen.“
„Du musst Wäsche waschen.“
„Du musst deine Wohnung sauber und in Ordnung halten. Das ist besonders im Erwachen wichtig.“
„Du musst immer freundlich sein.“
„Du musst beten.“

Erschöpft kommst du vom Einkaufen zurück und setzt dich auf dein Sofa. Kaum sitzt du so richtig gemütlich, heißt es: „Steh auf und hol dir ein Glas Wasser. Du hast sicher bald Durst.“ Und du stehst auf und holst dir was zum trinken.

Diese Stimme kann ganz schön nervig sein. Mit zunehmender Dauer, die du im Erwachensprozess verbringst, wird sie immer nerviger. Zum Teil einfach deshalb, weil du dir dieser Stimme immer gewahrer wirst. Dein Bewusstsein wächst. Irgendwann ist diese Stimme nicht mehr nervig, sondern richtig anstrengend. Das kann so weit gehen, dass du irgendwann völlig geschafft und geschlaucht bist, weil da so viele Handlungsanweisungen und Verhaltensanweisungen von irgendwo da drinnen kommen.

Meine Aufzählungen reichen sicher aus, damit dir auffällt, welche Anweisungen in dir ständig kommen. Ich muss da keine lange Liste schreiben, die ohnehin nicht einmal ansatzweise vollständig sein kann. Die schier unendlichen „Du musst“-Anweisungen werden ergänzt durch ebenso viele „Du darfst nicht“-Anweisungen. Das Du-musst treibt dich ständig an, das Du-darfst-nicht hält dich ständig klein, es unterdrückt dich. Beides ist gleichermaßen schädlich, aber das Du-musst hält dich ständig am Laufen. Es sorgt dafür, dass du viel zu wenig Zeit mit und bei dir verbringst.

Du siehst auch, dass die verschiedenen Anweisungen dieser Stimme ziemlich willkürlich, ja sogar gegensätzlich sind. Es geht nämlich nicht darum, dich mit Anweisungen in eine bestimmte Richtung zu bringen, also dich irgendwohin zu führen, sondern einfach nur darum, dich ständig beschäftigt zu halten. Es geht darum, dass du ständig irgendetwas tust, egal was.

Siehst du? Du dachtest höchst wahrscheinlich, dass die Dinge, die du tust, weil du einen Auftrag dazu erhältst (praktisch immer vom Verstand), würden irgendwohin führen. Tun sie aber nicht! Sie halten dich nur am Laufen, das ist alles. Sie sind reiner Selbstzweck. Damit dir auch bestimmt nicht langweilig wird.

Da gibt es wieder einmal ein schönes, altes, großes Glaubenssystem in dir, das in allen möglichen und unmöglichen Zusammenhängen besagt, dass du etwas tun musst. Dieses Glaubenssystem äußert sich auch in vielen Sprichwörtern. „Wer rastet, der rostet“, oder „Morgenstund hat Gold im Mund.“ (Das ist das Äquivalent zum englischen „Früher Vogel fängst den Wurm.“) Es gibt noch einige mehr, in jeder Sprache und jeder Kultur. Die Sprichwörter drücken das Bewusstsein der Menschheit aus. Und das besagt, dass man erstens nicht einfach so herumsitzen und nichts tun kann. Und dass man zweitens etwas tun muss, um etwas zu erreichen. Punktum.

Vielleicht ist dir aufgefallen, dass dieses Glaubenssystem ganz eng mit einem anderen Glaubenssystem zu tun hat, über das ich gestern geschrieben habe. „Du bist nicht gut genug.“ Weil du nicht gut genug bist, musst du etwas tun, um besser zu werden. Diese beiden Glaubenssysteme sind nicht dasselbe, aber sie gehen Hand in Hand.

Glaubenssysteme sind Aspekte. Also, nicht alle Aspekte sind Glaubenssysteme, aber auch Glaubenssysteme sind Aspekte. Aspekte sind nicht einfach so da, sie wurden von dir erschaffen, um eine Aufgabe zu erfüllen. Sie haben einen Job, und den machen sie, konsequent. Sie machen ihn dadurch, dass sie dir immer wieder dasselbe ins Ohr flüstern. (Manchmal schreien sie dich auch an.) Völlig unabhängig von irgendeiner Situation erzählen sie dir immer wieder dasselbe. „Du bist nicht gut genug.“ Egal, was du tust, egal, wie gut du in einer Sache geworden bist, egal, wie perfekt du bist. Der Aspekt steht da und sagt: „Du bist nicht gut genug.“

„Du musst was tun.“ Egal, was du tust, egal, wie viel du tust, egal, was du mit deinen Taten schon alles erreicht hast. Der Aspekt steht da und sagt: „Du musst was tun.“ Die Aspekte machen lediglich ihren Job. Du könntest dich auch einmal hinsetzten, dir das Treiben der Aspekte anschauen und sagen: „Alle Achtung! Ihr mach euren Job wirklich gründlich.“


Nichts zu tun bedeutet nicht nur, nicht körperlich tätig zu werden. Viel mehr als das bedeutet es, nicht geistig tätig zu werden. Das wiederum bedeutet, keine Lösungen im Verstand zu suchen. Der kennt nämlich keine Lösungen, der kennt nur Probleme, und er liebt es, sich mit Problemen zu beschäftigen. Er reist auch gerne durch die lineare Zeit, denn dazu wurde er erschaffen. Er reist also gerne in die Vergangenheit und in die Zukunft. (Nur mit der Gegenwart hat er's nicht so.) Wenn du also dasitzt, körperlich nichts tust, aber im Geist mit Problemen, Vergangenheit und Zukunft und mit deinen menschlichen Wünschen beschäftigt bist, dann tust du nicht nichts. Im Gegenteil, du bist schwer beschäftigt.

Ich bin ja an sich schon lange ziemlich meisterhaft im Nichtstun. Aber vor ein bis zwei Monaten habe ich das Nichtstun noch einmal neu in einer neuen Qualität für mich entdeckt. Physisch bin ich dabei am Laptop gesessen und habe gespielt oder mir Filme und Serien angeschaut. Oder ich habe mir etwas zu essen gemacht. Oder ich bin spazieren gegangen. Oder einkaufen. Vielleicht habe ich auch gelegentlich ein bisschen geputzt, ich weiß es nicht mehr. Begonnen hat es entweder in der Nacht in den ca. zwei Stunden vor dem Schlafengehen, oder in der Früh, beim und nach dem Frühstück. Weitergegangen ist es dann sicher am Laptop beim Spielen.

Weil ich es gespürt und empfunden habe, habe ich es mir dann auch vorgesagt: „Ich muss nichts tun. Ich meine, ich muss wirklich nichts tun, gar nichts.“ Ich muss nicht putzen, wenn ich keine Lust dazu habe. Ich muss mich nicht um mein Auskommen kümmern. Ich muss nicht daran denken, wann welche Rechnungen fällig werden. Ich muss keine neuen Beiträge schreiben. Ich muss nichts berücksichtigen. Wenn ich will, kann ich hier noch fünf Stunden spielen, weil es nämlich nichts gibt, was ich tun muss.

Ich hatte dieses Gefühl fast ständig in mir. Ich bin aufgestanden und habe irgendetwas Kleines gemacht. Essen oder so. Da kamen Gedanken an diese absurden Regierungsmaßnahmen. Und schon war da ICH und sagte: „Und das muss ich auch nicht tun.“ Gemeint war, diese Gedanken zu denken. Ich habe praktisch bei allem zuerst bemerkt und dann gefühlt, dass ich das nicht tun muss. Mein Leben wurde noch leichter als sonst, es war federleicht. laugh

Das ging in dem besagten Zeitfenster ca. eine ganze Woche so dahin. Eine ganze Woche lang habe ich gefühlt, nichts tun zu müssen. Das war richtig berauschend. Natürlich habe ich auch nichts getan, außer den beschrieben Kleinigkeiten. Aber es ging in erster Linie nicht darum, nichts zu tun, sondern darum, nichts tun zu müssen. Natürlich war das Nichtstun ein Ausdruck des Gefühls, nichts tun zu müssen. Und in jener Woche war es auch wichtig, tatsächlich nichts zu tun. So richtig nichts.

Vielleicht glaubst du nun, weil du ja dieses Glaubenssystem hast, dass dann auch nichts geschehen würde und dass dir langweilig würde. Aber das stimmt nicht. Denn wer nichts tun muss, kann tun, was immer er will. Ohne Vorgaben, ohne zu erzielende Ergebnisse. Einfach aus Lust, Neugier, Freude und ähnlichen Motiven. Das ist der Unterschied zwischen Überleben und Lebenheart

Und was die Langeweile betrifft, kann ich nur sagen, dass mir nie langweilig ist, wie viel ich auch nichts tue. Solange dir langweilig ist, hast du noch nicht viel von dir selbst entdeckt. Da kann ich dir nur empfehlen, dich hinzusetzten, nichts zu tun (wie weiter oben beschrieben) und abzuwarten, was passiert. Das habe ich übrigens schon in meinem allerersten Buch aus dem Jahr 2009 empfohlen. wink

Bei all den Gedanken ans Nichtstun und Nichts-tun-müssen ist mir ein Lied aus dem Soundtrack von Pulp Fiction eingefallen, in dem dieses Getue ums Tun und Nichtstun herrlich aufs Korn genommen wird.

Ich zähle die Blumen an der Wand [auf der Tapete]
Das plagt mich nicht
Ich spiele Solitär bis zur Dämmerung
Mit dem Deckblatt von 51
Ich rauche Zigaretten
Und schaue mir Käpt‘n Känguru an
Also erzähle mir nicht, ich hätte nichts zu tun.