Dieses Kapitel ist für Menschen gedacht, die schon längere Zeit erleuchtet sind. Damit meine ich zumindest zwei Jahre, obwohl die Dinge, die ich hier beschreibe, sich auch schon früher zeigen können. Jedenfalls können Menschen, die schon ein paar Jahre lang erleuchtet sind, am meisten mit dem anfangen, was ich hier beschreibe, weil sie es höchstwahrscheinlich aus eigener Erfahrung kennen. Alle anderen Leser können lernen, was so alles passieren kann.
Unmittelbar oder kurze Zeit, nachdem ein Mensch seine Erleuchtung realisiert hat, erlebt er zum ersten Mal das göttliche Leben, das so ganz anders und absolut umwerfend ist. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass er bereit ist, sich darauf einzulassen. Das ist auch höchstwahrscheinlich der Fall, denn bei der Erleuchtung hat der Mensch sein wahres Wesen, seine wahre Natur erkannt und die göttliche Perspektive auf sich selbst und sein Leben erfahren. Und nun ist er unglaublich neugierig darauf, dieses göttliche Leben zu erfahren. Also kennt er gerade keine Angst und keine Sorgen und spielt mit diesem göttlichen Leben wie ein Kind. Da ist noch wenig Bewusstheit über dieses neue Leben, dafür viel Lust am Spielen.
Da erlebt der Mensch zum ersten Mal, wie es ist, sich bewusst fürs Nichtstun zu entscheiden und seiner Göttlichkeit die Dinge des Lebens zu überlassen. Und er erlebt, dass das nicht nur funktioniert, sondern dass das viel großartiger funktioniert, als es der Mensch jemals hinkriegen könnte. Unter Umständen erlebt er auch die ersten Erfahrungen der Seele, die nun immer mehr in seinen Körper kommt und erste, menschliche Erfahrungen macht. All das sind absolut berauschende Erfahrungen, wo der – nun göttliche – Mensch aus dem Staunen nicht heraus kommt.
Diese erste Phase des spielerischen, göttlichen Lebens dauert meiner Erfahrung nach bei manchen Menschen wenige Wochen, bei anderen ein paar Monate. Und dann meldet sich das menschliche Selbst wieder mehr und mehr zu Wort. Das menschliche Selbst will sich kümmern und sorgen. Es hat Angst davor, die Zügel schleifen zu lassen. Es weiß nicht, wie das alles funktionieren soll. Dieses Zu-Wort-Melden des menschlichen Selbsts ist das, was ich als erste große Trennung beschrieben habe. Der Mensch verliert die Leichtigkeit, die er im ersten, göttlichen Leben hatte, völlig und findet sich in Sorgen und Ängsten wieder. Die Erde ist wieder eine Scheibe, nachdem sie zuvor ein tiefes Meer gewesen war.
Gut, nach einer gewissen Zeit findet der Mensch wieder sich selbst, seine unendliche Tiefe. Aber diese erste Trennung hinterlässt Spuren. Sie bleibst vor allem im Gedächtnis des Verstandes haften, von wo sie so manches Unheil anrichten kann.
Das erleuchtete Leben geht weiter. Es kommt mitunter noch zu ein paar Trennungen, die aber bei weitem nicht mehr so schlimm sind wie die erste. Die Phase der Anpassung findet statt. Der Mensch lernt seinen Gott besser kennen, der Gott lernst seinen Menschen besser kennen. Die Seele (Gott) steckt immer mehr ihrer selbst in den Körper ihres Menschen, was beide Aspekte, der menschlichen und der göttliche, immer wieder als überwältigend empfinden und erfahren.
So weit, so gut.
Was danach kommt, beschreibt am besten ein Zitat des Schriftstellers Bert Brecht: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns. Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“
Irgendwann gewöhnt sich der Mensch an all das. Er gewöhnt sich an die göttliche Perspektive, die er übrigens auch während der Trennungen hatte, er gewöhnt sich an die ekstatischen Erlebnisse der Seele im menschlichen Körper, an sein Sehen und Erkennen, an sein Verstehen und an all die anderen Dinge, die ein erleuchtetes Leben so mit sich bringt. Das alles ist für den erleuchteten Menschen normal geworden.
Es ist so normal, dass er den Unterschied zum getrennten Leben nur bemerkt, wenn er den Kontrast erlebt in Begegnungen mit anderen. Dieser Kontrast zeigt ihm, wo er schon lange steht, und das wirkt beruhigend. Diese Beruhigung brauch er auch immer wieder, denn sein „normales“ Leben birgt Tücken, die nicht zu unterschätzen sind.
Tücke Nr. 1: der Verstand. Alle Erkenntnisse und alle göttlichen Erfahrungen sind auch als Informationen im Verstand gespeichert. Nicht die Erkenntnisse und göttlichen Erlebnisse selbst, der Verstand kann nichts erkennen. Aber es sind eben auch Informationen. Und so drängt sich der Verstand still und heimlich wieder in den Vordergrund und gibt sich als göttliche Weisheit aus. Und oft genug fällt der erleuchtete Mensch drauf rein.
Kennst du das? ZB siehst und erkennst du wirklich, das ist kein Fake. Und dennoch fehlt dir deine göttliche Tiefe, alles wirkt irgendwie flach. Dir fehlen die göttliche Freude, Begeisterung und Leidenschaft. Das kommt daher, dass der Verstand sich schon wieder massiv in dein Leben gedrängt hat und so tut, als ob er Weisheit wäre. Dieses Empfinden der Flachheit und das Fehlen der Tiefe ist das unfehlbare Zeichen dafür, dass in dir und aus dir der Verstand spricht, nicht deine Göttlichkeit. Ich habe auf dieses Faken des Verstandes mehrfach hingewiesen.
Tücke Nr. 2: das menschliche Selbst. Der Verstand ist natürlich ein Teil des menschlichen Selbsts, jedoch spreche ich hier vom ganzen menschlichen Selbst, nicht nur vom Verstand. Wie ich weiter oben schon sagte, möchte sich das menschliche Selbst kümmern. Es möchte sich um das Wohl des Menschen kümmern und für sein Wohl sorgen. Und dazu bedient es sich der Steuerung durch den Verstand, es möchte Kontrolle ausüben.
Das menschliche Selbst hat eine Höllenangst davor, die Kontrolle aufzugeben und sie der Seele zu überlassen. Die ist doch noch immer ein bisschen fremd für es. Das heißt genauer, die Seele an sich ist dem menschlichen Selbst nicht fremd, sondern die Art und Weise, wie die Seele die Dinge des Lebens erledigt. Es traut sich nicht so recht, diesem Vorgehen der Seele zu vertrauen. Also kümmert es sich lieber selbst, denn das kennt es seit ewigen Zeiten.
Nun ist das erleuchtete Leben für den Menschen normal geworden. Er hat sich auch daran gewöhnt, einen Teil der alltäglichen Dinge der Seele zu überlassen. Jedoch hat sich ja der Verstand im Gewand von Weisheit schon wieder in sein Leben eingemischt. So ist Routine entstanden, und so ist das erleuchtete Leben manchmal langweilig. Es ist ja alles so einfach und selbstverständlich!
In dieser Routine drängt sich das menschliche Selbst wieder vor und sagt: „Ich will mehr!“. Und selbstredend will sich das menschliche Selbst auch gleich darum kümmern. Sei es dadurch, dass der Mensch tätig wird, um dieses Mehr zu bekommen, oder sei es dadurch, dass das menschliche Selbst der Seele Anweisungen gibt, dass und wie sie das Mehr herbeischaffen soll. In beiden Fällen will das menschliche Selbst die Kontrolle ausüben. Und beide Fälle sind zum hoffnungslosen Scheitern verurteilt.
Schließlich gibt es eine dritte Tücke: alte Themen. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat der erleuchtete Mensch während des Erwachens und unmittelbar nach der Erleuchtung nicht alles aus dem Weg geräumt, was nicht in sein neues Leben gehört. Das wäre auch wirklich ein Wunder, denn der Berg von Gerümpel des alten, menschlichen Lebens ist schier unendlich hoch. Ich kenne weder persönlich noch aus Berichten keinen einzigen erleuchteten Menschen, der keine alten Themen mit sich herum schleppt. Manche versuchen, es zu überspielen, aber ich sehe die Themen. Sie alle haben Themen, die mit Beziehungen, Geld oder dem Körper zu tun haben. Durch ihren Umgang damit, nämlich dem Überspielen und Verbergen, haben sie dann auch noch gleich ein Selbstwertthema, dem größten von allen. Denn sie sagen sich durch ihren Umgang mit ihren Themen: „Ich darf dieses Thema nicht haben, ich bin ein erleuchteter Meister! Wieso kriege ich das nicht hin? Ich bin offensichtlich nicht gut genug!“ So sieht ein Selbstwertthema aus.
Nun gibt es also im erleuchteten Leben diese drei Tücken. Den Verstand in einem falschen Kleid, das menschliche Selbst, das sich irgendwann richtig klebrig anfühlt, und irgendein altes Thema.
Da kann das erleuchtete Leben schön und einfach und leicht und fried-, liebe- und freudvoll sein, wie es will. Die drei Tücken können es früher oder später zur Hölle machen. Aus dem einfachen Grund, weil in das neue, göttliche Leben einfach gar nichts Altes gehört. Alles Alte wird zu einer immer größeren Belastung.
Da schleicht sich irgendwann der Verstand durch die Hintertür ein und tut so, als ob er die Göttlichkeit wäre. Vor allem dieser Umstand sorgt für die „Mühen der Ebenen“. Die einfache Auflösung dieses Umstands besteht darin, sich des tückischen Gewandes des Verstandes bewusst zu werden und ansonsten nichts zu tun. Dieses Bewusstmachen ist auch sehr leicht, weil sich die vorgebliche Weisheit des Verstandes total flach anfühlt im Gegensatz zur Tiefe der Seele.
Weniger leicht ist der Umgang mit der Kontrolle des menschlichen Selbsts. Alleine schon deshalb, weil es auch für den erleuchteten, göttlichen Menschen selbstverständlich ist, diese menschliche Kontrolle anzuwenden. Bei zig oder gar hunderten Kleinigkeiten des Alltags. Es beginnt bei der Entscheidung, was der Mensch am Vormittag anzieht. Es geht weiter damit, welche alltäglichen Dinge er heute tun will. Dann gibt es „größere“ Dinge, wie etwa einen Installateur anzurufen, wenn bei Wasser, Gas, Stromleitung oder Heizung etwas nicht in Ordnung ist. So ist etliche Male am Tag menschliche Kontrolle notwendig. Und so ist es leicht, die menschliche Kontrolle liebzugewinnen und sie auch bei wichtigen Dingen des Lebens einzusetzen. Hier ist Unterscheidungsvermögen gefragt!
Wo menschliche Kontrolle gar nichts zu suchen hat, ist der Umgang mit alten Themen. Und genau da ist es verlockend, auf sie zurückzugreifen. Zumal es das traumatische Erlebnis der ersten, großen Trennung gegeben hat, das der Verstand nie vergisst. Dieses Erlebnis dient dem menschlichen Selbst immer wieder als Rechtfertigung dafür, der Seele doch nicht ganz zu vertrauen. Doch genau da geht gar nichts mehr für einen erleuchteten Menschen.
Was das menschliche Selbst auf Lager hat, sind alte Zugänge, weil es ja dem göttlichen Vorgehen nicht so recht vertraut. Da gibt es wieder Anstrengung, anschieben und anschubsen, verführen und natürlich wünschen und hoffen. Und überall steckt eine Agenda dahinter. Das heißt, alles, was getan wird, wird um ... zu ... getan. Um etwas zu erreichen.
All das sind Dinge, die bei einem erleuchteten Menschen überhaupt nicht mehr funktionieren. Sie funktionieren nicht ein bisschen oder ein kleines bisschen, sie funktionieren gar nicht mehr. Nie wieder. Wenn ein erleuchteter Mensch aus einer Agenda handelt, um etwas zu erreichen, und nicht aus reiner Freude am Erschaffen, dann geht das hoffnungslos daneben.
Wenn ein Mensch, der schon mehrere Jahre lang erleuchtet ist, auf die Kontrolle des menschlichen Selbsts zurückgreift, erlebt er zuerst Frust ohne Ende und dann körperliche Probleme ohne Ende. Wenn er das machtlose Leben gewählt hat, was er ziemlich sicher getan hat, stehen Versuche der menschlichen Kontrolle dem diametral entgegen. Sein Leben kann zu einem Desaster werden.
Das einzige, was jetzt noch hilft, ist Loslassen und Vertrauen. Das ist sowieso das, was vom Beginn des Erwachens an die beste Wahl ist. An dieser Stelle des erleuchteten Lebens ist es ein Muss. Dieses totale Loslassen und das totale Vertrauen klingt zwar einfach, ist auch einfach, gehört aber zu den schwierigsten Dingen, die ein Mensch unternehmen. Hilfreich ist dabei die innere Haltung der Wurschtigkeit. Alles ist egal. Was es aus der göttlichen Sicht auch ist.
Was ich hier skizziere, ist nicht etwas, das so sein muss. Das Szenario, das ich eingangs beschrieben habe, nämlich Erleuchtung – Realisierung – erstes göttliches Leben – Trennung und Anpassung, ist eines, das häufig oder typischer Weise so passiert. Dass einige Jahre nach der Erleuchtung sich Tücken einschleichen, ist sehr wahrscheinlich. Dass es Reste alter Themen gibt, ist mit ziemlicher Sicherheit so.
Freilich geht jeder Mensch anders mit diesen Dingen um. Manche sind vielleicht weit von einem Desaster entfernt, die ganze Zeit über. Meine Beschreibung ist ein mögliches Szenario, das allerdings nicht ganz unwahrscheinlich ist. Zumindest nach meinen bisherigen Erfahrungen. Was zu jeder Zeit und in jeder Phase am besten hilft, ist ein qualifizierte Begleitung. Auch das weiß ich aus Erfahrung.