Wie schön, dass es dir schlecht geht

Vor Jahrzehnten, ich glaube, es war in den 80er Jahren, habe ich irgendwo eine Aussage gelesen, die in meinem Gedächtnis hängen geblieben ist. Ich weiß sie natürlich nicht mehr wörtlich, aber sinngemäß lautete sie:

Wenn es dir schlecht geht, wenn du weinst, steht die halbe Welt da und weint mit dir. Aber wenn es dir richtig gut geht, sodass du es jedem erzählen willst, dann interessiert das keinen Menschen, dann bist du alleine.

Ich habe mir diese Aussage gemerkt, weil sie so zutreffend war, weil es genau das war, was ich schon so oft erfahren hatte. Wenn es mir so richtig gut ging, also nicht normal gut, sondern außergewöhnlich gut, und ich das in die Welt hinaus schreien wollte, hat das niemanden interessiert. Die Leute haben sich einfach von mir abgewendet, sie haben sich umgedreht. Niemand wollte hören, dass ich vor Freude platzen könnte.

Ich war damals überhaupt in einer schwierigen Lage, denn wenn es mir so richtig schlecht ging, haben sich auch alle von mir abgewendet. Mir hatte es nicht schlecht zu gehen. Ich war damals schon jemand, an den sich die Menschen gerne angelehnt haben, ich wurde als kraftvoll und energiereich wahrgenommen. Mein Normalzustand war, dass es mir gut ging, besser als dem Durchschnitt. Und so wollten mich die Menschen sehen. Wenn ich einen schlechten Tag hatte und frustriert war, war das OK. Die Leute haben dann getuschelt: „Was ist den heute mit dem Reiner los?“ Aber wenn es mir einmal richtig schlecht ging, wollte niemand den Grund dafür wissen, sie sind alle nur weggegangen von mir. Und wenn es mir außergewöhnlich gut ging, auch. Aber gut, das ist eine andere Geschichte.

Also zurück zum Thema. Sei deprimiert, und hundert Menschen sammeln sich um dich. Jauchze zum Himmel, und du bist alleine. Man könnte das jetzt wohlwollend sehen und sagen, die Menschen zeigen ihre Anteilnahme und bieten ihre Hilfe an, sie sind füreinander da. Aber wo, zum Teufel, ist denn ihre Anteilnahme, wenn du gerade die Welt umarmen könntest? Nein, die wohlwollende Sicht zeigt nicht einmal die Hälfte des Ganzen. Da gibt es einen Teil in jedem Menschen, der sich darüber freut, wenn es einem anderen schlecht geht.

Der eine Fall ist, dass Menschen es gerne sehen, wenn ein anderer auf seine Ebene herunter kommt. Ihm selbst geht es schließlich auch nicht so großartig. Also sieht er es gern, wenn es anderen auch nicht gut geht. Er kann sich dann so ähnliche Dinge sagen wie: Der kocht auch nur mit Wasser; oder Der ist auch nicht so groß, wie er gerne tut. Das klingt bitter, ist aber zutiefst wahr. Ich beobachte das immer wieder.

Der andere Fall ist, dass es Menschen gibt, die sich selbst gerne über andere stellen. Und wenn es dir schlecht geht und du das sagst, gibt ihnen das die perfekte Gelegenheit, sich über dich zu stellen. Das Darüberstellen kommt oft in Form von Hilfeangeboten. „Ich weiß, was mit dir los ist und sage dir jetzt, was du tun musst.“ Menschen, die sich gerne über andere stellen, gewinnen eine Menge Energie aus denen, denen es gerade schlecht geht.

Jedenfalls sind beide Fälle ziemlich grauslich.

Es gibt natürlich einen Anlassfall, der mich auf mein heutiges Thema brachte, und das sind die letzten zwei Blogeinträge von Verena. In Verena unplugged hat sie darüber geschrieben, dass es ihr gerade wirklich beschissen ging. Dieser Beitrag wurde sofort reichlich kommentiert. Ein paar Tage später hat sie in Trennung light durchblicken lassen, dass es ihr wieder deutlich besser ging. Das war niemandem einen Kommentar wert. Und mir ist sofort die eingangs zitierte Aussage eingefallen.

Nun, ich bin näher am Ball, weil Verena und ich einen regen Austausch pflegen. Ich weiß, dass sie kurz vor ihrem ersten der genannten Beiträge voll in ihrer ersten Phase des göttlich Lebens war, und habe mich wahnsinnig darüber gefreut. Als ich ihren Blogeintrag las, war ich schockiert. Kurz danach habe ich gesehen, dass sie gerade dabei war, ihre erste Trennung zu erleben. Das ist so finster und so schmerzvoll, dass das auch Verenas Worte nur im Ansatz darstellen konnten. Bei ihrem zweiten Beitrag bin ich nur mit lachendem Gesicht dagesessen und habe mich gefreut. Das wat zwar nicht das Ende der Trennungsphase, aber ich habe gesehen, mit wie viel Leichtigkeit sie das alles nehmen konnte.

Verstehe mich nicht falsch, ich urteile nicht über die Menschen, die Verena unplugged kommentiert haben. Aber falls du einer von ihnen bist, dann frage dich einmal selbst, warum du Trennung light nicht kommentiert hast. Was steckt da dahinter? Welches Muster siehst du da? Welche Grundeinstellung?

Es ist schon witzig mit den Menschen. Auf der einen Seite suchen sie Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, auf der anderen Seite wollen sie Menschen in ihrer Reichweite auf eine Ebene ziehen, auf der sie sich selbst fühlen. Sie mögen es nicht, wenn die in ihrer Reichweite zu groß sind. Deshalb haben die Menschen gerne tote Vorbilder, denen sie in alten Büchern und Channelings begegnen. Aber die Leute von nebenan sind ja so normal und gewöhnlich, so menschlich, die können und dürfen nicht großartig sein.

Mit dieser Sache hatte ich in den ersten paar Jahren nach meiner Erleuchtung immer wieder zu kämpfen. Da gab es nicht Wenige, die mich immer wieder auf ihre Ebene hinunter ziehen wollten. Mir ging es ja offensichtlich viel zu gut, ich war schon längst dort, wo sie hin wollten. Und es gab andere, die mich auf einen Sockel stellten. Dort fühlte ich mich aber auch nicht so wohl. Ich hätte gerne einfach nur Freunde gehabt. Kuthumi und Osho berichteten über sehr ähnliche Erfahrungen.

Ich verfüge jedenfalls nicht über die genannten Muster. Wenn es jemand so richtig gut geht und er vor Freude platzen könnte, bin ich begeistert und freue ich mich im selben Maß mit. Viele Klienten geben mir immer wieder Anlass zu so einer Freude, und sie können ihre Freude mit mir teilen. Ich drehe mich nicht um und gehe weg. Und wenn es jemand so richtig schlecht geht, reiche ich ihm meine Hand.

Umgekehrt weiß ich, dass ich in meiner größten Freude und in meinem tiefsten Leid alleine bin. Ich bin immer alleine, weil ich souverän bin und somit niemand brauche. Ich habe mich und wünsche jedem, diese großartige Erfahrung zu machen. Ich erlebe dafür auch schon lange nicht mehr, dass mich jemand hinunter ziehen will. Selten kommt es vor, dass sich jemand größer als ich machen will, aber darüber kann ich nur lachen.

Seit eher kurzer Zeit, sagen wie seit ca. eineinhalb Jahren, erlebe ich Ausnahmen vom Alleinsein. Und zwar in der Begegnung mit erleuchteten Menschen. Sie verstehen meine Freude und sind ebenso begeistert und freuen sich mir mir, wie das umgekehrt der Fall ist. Und ich stelle schon wieder fest, dass ich noch viel zu erwarten habe. smiley

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Lieber Reiner,

als ich deinen Text:

"Wenn es dir schlecht geht, wenn du weinst, steht die halbe Welt da und weint mit dir. Aber wenn es dir richtig gut geht, sodass du es jedem erzählen willst, dann interessiert das keinen Menschen, dann bist du alleine"

las, dachte ich gleich: komisch, ich habe es in meinem Leben oft genau anders erlebt und finde dies in einem Zitat von Ella Wheeler Wilcox wieder:

„Lache und die Welt lacht mit dir, weine und du weinst allein.“

Ich gehöre zu denen, die Vera unplugged kommentiert haben und ich schreibe hier gerne meine Beweggründe. Das Gefühl und die Trennung, in der Verena sich zu diesem Zeitpunkt befand, kenne ich selber sehr genau und ich empfand tiefes Mitgefühl. Es war mir ein Bedürfnis, Verena für ihre Offenheit, auch diese schwierigen Phasen hier zu beschreiben zu danken, weil nicht jeder Mensch bereit ist, sich in seinem Schmerz mitzuteilen.

Als ich dann einige Tage später Verenas "Trennung light" las, füllte sich mein Herz mit Freude und ich dachte: wie schön, Verena ist zurück auf dem Weg. Wobei ich diesen Text nicht so empfunden habe, dass es ihr nun wieder unglaublich gut geht, sondern eher als eine Reflektion dessen, was sie erlebt hat.

Aber ich nehme deinen Hinweis gerne zum Anlass, künftig den Menschen, denen es gut geht, auch mitzuteilen, dass es mich freut.

Einen guten Übergang ins neue Jahr und herzliche Grüße

Sabine

Liebe Sabine,

ich fürchte, ich habe von etwas anderem geschrieben, als du verstanden hast. Und das macht nichts, denn für dich darf nur deine Wahrheit zählen.

Was Verena betrifft, so verstehe ich deine Beweggründe und freue mich, dass du deine Anteilnahme künftig auch bei freudigen Anlässen ausdrücken möchtest. smiley

Liebe Grüße

Reiner