Die hässliche Seite des Erwachens

Ich möchte wieder einmal etwas über den Prozess des Erwachens schreiben. In mir war das schon sehr lange nicht mehr präsent, für mich geht es normalerweise um das Leben nach der Erleuchtung, was sich auch in meinen vorwiegenden Kontakten zeigt. Es ist auch so, dass ich mich kaum mehr daran erinnere, wie das Leben vor der Erleuchtung war. Manchmal werde ich in Gesprächen daran erinnert, dann kann ich diese Zeit wieder abrufen.

Wie auch immer, es gibt sehr viel mehr erwachende Menschen als erleuchtete, und meine Website ist ja auch (oder sogar primär) für sie da. Ich habe glücklicher Weise viel aufgeschrieben, auch hier in meinem Blog, in den alten Beiträgen. Und jetzt habe ich gesehen, dass ich mir vor ca. einem Jahr ein paar Notizen für so einen Beitrag gemacht habe. Also gehe ich zurück und erinnere mich, so gut ich kann.

Die vorherrschende Erinnerung ist eine sehr unschöne, an die hässliche Seite des Erwachens. Das heißt, von heute aus betrachtet ist an dieser Zeit gar nichts hässlich, aber damals habe ich es so empfunden. Hässlich ist eigentlich schwer untertrieben, es war abscheulich, grauenvoll, schlimmer als alles, was ich mir davor als normaler, schlafender Mensch vorstellen hätte können.

Das ganze Erwachen fühlte sich an wie ein riesiger, langer, zäher Kampf, und dieser Kampf schien fast aussichtslos. Nie geahnte Ängste drängten sich mir plötzlich auf. Ängste, die ich davor in meinem Leben nicht gekannt hatte. Mir schien damals, als ob ich einen riesigen Haufen Probleme gehabt hätte, wobei Geld nur eines davon war. Einen Großteil meines Erwachens verbrachte ich mit viel zu wenig Geld. Allerdings, wenn ich heute zurückschaue, stimmt das gar nicht. Ich hatte immer wieder Phasen mit ausreichend Geld.

Ich traute mich nicht, mit anderen Menschen darüber zu reden, was ich tat und wie es mir ging. Ich war ohnehin schon das Gespött der Leute, die ich von früher kannte. Ich begann, mich zu verstecken, und wenn es zu Gesprächen mit alten Bekannten kam, gab ich etwas vor und versuchte, dabei so wenig wie möglich zu lügen. In meinem Tagebuch fanden sich immer wieder dieselben Themen.

Und ich erinnere mich, wie ich um den alten Reiner weinte. Der, der einmal geachtet war, geschätzt für viele Dinge, die er konnte. Aber ich konnte nicht mehr zurück! Ich konnte den alten Reiner nicht wiederbeleben, das war schier unmöglich. Wie wichtig mir die Achtung anderer Menschen einmal war! Ich hatte viel dafür getan. Aber nun war alles anders. Ich wäre gerne geschätzt und geachtet worden, aber ich konnte nichts mehr dafür tun. Also weinte ich um den alten Menschen, der ich einst gewesen war. Der hatte auch die ganzen Probleme und Ängste nicht, die ich nun hatte.

Es fühlte sich für mich so an, als ob ich das Ende der Welt erleben würde. Ich hörte öfters das Lied The End of the World von Vonda Shepard und fühlte mich genau so, wie es da gesungen wird. „Warum scheint die Sonne noch immer? Warum strömt das Meer immer noch zum Strand? Wissen sie denn nicht, dass dies das Ende der Welt ist?“ Und: „Ich kann nicht verstehen, ich kann nicht verstehen, dass das Leben einfach so weitergeht!“ Manchmal, an Tagen mit besonders schönem Wetter, dachte ich: „Die verhöhnen mich alle! Die strahlende Sonne, die Bäume, die Blumen, die gut gelaunten Menschen, die verhöhnen mich! Wie kann man nur so gut gelaunt und voller Leichtigkeit sein?“

Es kamen immer wieder Gedanken an den Tod, und manchmal blieben sie auch länger. Dieses Leben schien mir so überhaupt nicht lebenswert! Gleichzeitig wusste ich, dass ich nicht sterben würde. Tief in mir drin spürte ich einen ganz starken Willen zu leben. Und das ließ mich noch mehr verzweifeln: nicht einmal sterben konnte ich, wenn ich wollte! Da ist eine scheiß Kraft in mir, die mich einfach weiter trägt, die mich durch die ganzen Qualen durch zwingt!

Über eine längere Zeit schlief ich sehr viel, meistens bis weit in den Nachmittag hinein. Die Zeit des Schlafens war die erträglichste und die schönste. Da hatte ich keine Probleme und keine Qualen. Und ich war weg vom Denken. Manchmal hätte ich mir am liebsten den Verstand aus dem Kopf heraus geprügelt, er schien mir außer störend nur störend. In der Nacht blieb ich lang auf, in der Nacht schien alles leichter. Ja, in der Nacht spürte ich mehr mich.

Über allem war dieses Suchen und Sehnen und Streben. Das war die eigentliche Qual. Immer diese Vorstellungen wie: „Wenn ich nur endlich erleuchtet wäre! Wenn ich nur endlich wirklich leben würde! Wenn ich keine Probleme hätte! Wenn ich dieses und jenes endlich erreichen würde! Wenn nur endlich alles so laufen würde, wie ich ich das will und mir vorstelle!“ Ich fühlte mich so ohnmächtig wie nie zuvor. Das war das Schlimmste. Zumal ich glaubte, mit fortschreitender Dauer des Erwachensprozesses immer mehr in meine Eigenmacht zu kommen. Aber ich erlebte das Gegenteil.

Suchen, sehnen und streben, ja, das ist die wahre Qual. Das ist das, was in der christlichen Mythologie als Fegefeuer bezeichnet wird. Der Erwachensprozess ist das Fegefeuer. Im Christentum heißt es, im Fegefeuer kann mach sich entscheiden: will man zu Gott oder zum Teufel. Aber das stimmt nicht, es gibt hier keine Entscheidungsmöglichkeit. Man kann den Weg nur weiter gehen, weiter zu Gott, also zu sich selbst. Aber man kann Widerstand leisten, was die erwachenden Menschen auch reichlich tun. Der Widerstand verlängert den Aufenthalt im Fegefeuer, der dadurch immer hässlicher wird. Aber man kann keine andere Richtung einschlagen.


Ich erinnere mich auch an den Anfang des Erwachens. Ah, da war alles frisch ein neu und leicht. Ich war voller Begeisterung! Ich war total wissbegierig und lernte in kurzer Zeit sehr viel. Wie war das Leben schön damals! Ich machte große Fortschritte – dachte ich jedenfalls. In Wahrheit hatte ich ausschließlich auf Ebene 1 gelernt, ich hatte also nichts weiter als mehr Informationen über mehr Dinge. Das war mein vermeintlicher Fortschritt, das waren die Phasen 1 und 2 meines Erwachens. Aber es war alles schön und leicht und neu und frisch und großartig.

Ganz automatisch musste ich weitergehen. In der Phase 3 wurde das Leben immer schwieriger, denn jetzt ging es ums wirkliche Erwachen, um diesen zähen Prozess, der abschnittsweise höllisch schmerzt.

Ich erinnere mich auch daran, dass ich mich keineswegs immer so gefühlt habe wie weiter oben beschrieben. Ich hatte natürlich auch schöne Zeiten, Zeiten der Erkenntnisse und des Wachstums und der Freude. Dennoch war es häufig so, dass alles immer schlechter zu werden schien. Und der ahnungslose Reiner dachte, es würde alles immer besser werden.

Heute sehe ich freilich sehr klar, was damals los war. Ich war bei lebendigem Leib gestorben, und das musste auch so sein, denn sonst hätte ich nicht neu geboren werden können. Und ja, es war das Ende der Welt. Das Ende meiner alten Welt, wie ich sie bis dorthin kannte. Das war aber nicht das Schlimmste. Das größte Problem war, dass ich Vorstellungen vom Erwachen und von der Erleuchtung hatte. Alle Vorstellungen darüber sind zwangsläufig falsch, sie sind nichts als Illusionen, produziert vom menschlichen Verstand. Und weil ich Vorstellungen hatte, hegte ich Sehnsüchte und strebte ständig irgendwohin. Hätte ich das nicht getan, hätte ich keine Qualen erlitten. So einfach ist das. Ich habe alles Mögliche getan, nur eines nicht: das Leben einfach zu genießen, so wie es war.

Ich schreibe das alles auf, weil ich für alle Menschen, die sich in dieser Phase der Qual, des Kampfes und der vermeintlichen Aussichtslosigkeit befinden, eine Botschaft habe:

Es gibt ein Ende dieser Phase. Es gibt Erleuchtung, es gibt sie wirklich. Sie ist kein Schmäh, kein schlechter Witz und keine Erfindung irgendwelcher Meister, die nichts anderes zu tun haben, als dumme Menschen an der Nase herumzuführen. Das Beste, was du tun kannst, ist, deine ganze Misere zu vergessen, das Leben in vollen Zügen zu genießen und alles zu akzeptieren, was auf dich zukommt.

Kommentare

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Oh Mann, wenn das mal so einfach ist. Alles zu akzeptieren und das Leben genießen. Im Moment, besser gesagt schon eine lange Zeit quäle ich mich nur noch durchs Leben. Der Tod scheint einfacher zu sein - weil ich diese Nahtoderfahrung schon gemacht habe. Aber etwas stärkeres hält mich zurück. Trotzdem ist es eine endlose Qual. Nichts und niemand kann mich zurück bringen. Würde ich heute alles verlieren - ob Menschen oder Materialien -, mir würde nichts fehlen. Grausam aber wahr. Gibt es tatsächlich ein Ende des Leids? Ich hoffe, allein der Glaube, das Wissen fehlt.

Lieber Rüdiger,

das Leid endet, sobald du aufhörst nach etwas zu streben. Ich weiß, dass das leicht gesagt und schwer getan ist, Weil Menschen es nicht gerne einfach haben. Sie müssen es immer kompliziert und damit schwer machen.

Würde ich heute alles verlieren

Der Punkt ist, dass du alles verlierst. Du kannst es gehen lassen oder daran festhalten. Ersteres bringt Leichtigkeit, zweiteres bringt Qual. Und du hast immer die Wahl. Was wählst du?

Liebe Grüße

Reiner