Die letzten 10 Tage habe ich mit einer lieben Freundin verbracht. Sie kam aus Deutschland nach Wien und erlebte einmal etwas anderes als ihren gewohnten Tagesablauf und ihre gewohnte Umgebung. Ich zeigte ihr ein bisschen von der Stadt, und wir verbrachten viel Zeit mit Plaudern, wobei wir natürlich tiefe Blicke in unser Selbst nahmen.
Ich war also die ganze Zeit irgendwie beschäftigt. Ich hatte mich auf ihr Kommen gefreut und genoss die Zeit mit ihr. Doch in den letzten zwei, drei Tagen fragte ich mich schon, wann sie wohl wieder abreisen würde. Nicht weil mir an ihr irgendetwas missfiel, sondern weil ich die Zeit mit mir vermisste. Das Bedürfnis, wieder bei und mit mir zu sein, zeigte sich deutlich. Ich wollte wieder einfach für mich sein, mir selbst zuhören, wieder schreiben und an meiner Homepage weiter arbeiten. Das sind so ganz ureigen meine Dinge, die ich nicht vernünftig machen kann, wenn ich durch andere Menschen abgelenkt bin.
Ihr dürfte es ähnlich ergangen sein, gestern reiste sie ab. Sie freute sich auch schon sehr darauf, wieder nach Hause zu kommen, obwohl es ihr in Wien und mit mir sehr gut gefallen hatte. Sie braucht eben genau wie ich ihre Zeit mit sich selbst. Beim Abschied sagte sie: „Freust du dich schon, wieder alleine zu sein? So ist das mit dem Besuch: Man freut sich, wenn er kommt, und man freut sich auch, wenn er wieder geht.“
Gestern habe ich dann gleich einmal nichts gearbeitet, sondern Stunden um Stunden einfach nur mit mir verbracht. Das ist bei mir immer das erste nach einer intensiven Zeit mit anderen Menschen. Es ist, als ob ich meine gewohnte Umgebung und mein gewohntes Ich neu entdecken würde. Alles wird wieder gespürt, gefühlt und eingeatmet. Es kommt mir so vor, als ob ich mich wieder ausdehnen würde, nachdem ich mich zuvor unter den anderen Menschen etwas kontrahiert habe. Ich nehme ja doch Rücksicht auf die anderen, verhalte mich nicht ganz so, wie ich es tue, wenn ich alleine bin. Es ist nicht so, dass ich mich zurücknehme, wie ich das früher einmal gemacht habe, dennoch gibt es einen Unterschied.
Ich freute mich also wieder auf das Alleinsein und genoss es, als es soweit war. Da drängte sich mir eine Frage auf: Kann ich überhaupt noch mit anderen Menschen zusammen sein oder gar zusammen leben? Die eindeutige Antwort war: Ja! Bloß gibt es für mich zwei Voraussetzungen dafür. Erstens: Es müssen bewusste, souveräne Menschen sein. Zweitens: Es muss genug Raum für jeden da sein. Für beispielsweise zwei Menschen in einer Wohnung bedeutet das: Außer den Gemeinschaftsräumen Küche und Wohnzimmer muss jeder sein eigenes, geräumiges Zimmer haben, in dem er mitunter die meiste Zeit des Tages verbringt.
Das ist für mich einfach die klarste Sache der Welt, wenn es ums Zusammenleben geht. Ich habe immer meinen Raum, er ist das Zentrum meines Lebens. Aus diesem Raum heraus trete ich in die Gemeinschaft, wenn mir danach ist, und dorthin ziehe ich mich wieder zurück, wenn mir danach ist. In diesen Raum kann auch jeder eintreten, doch ich kann ihn auch jederzeit wieder rausschmeißen. In einer Partnerschaft bräuchte ich kein gemeinsames Schlafzimmer. Im Gegenteil, ich glaube, dass ich das nicht genießen würde.
Was die erstgenannte Voraussetzung betrifft, musste ich mich revidieren. Bewusst und souverän sind nicht die wirklichen Grundvoraussetzungen für mich. Es geht eigentlich um die Akzeptanz. Es müssen Menschen sein, die den anderen Menschen bedingungslos akzeptieren. Ich kenne mehrere Menschen, die nicht bewusst sind, aber akzeptieren. Durch die Akzeptanz entfallen das Anhaften an anderen und der Versuch, Energie zu stehlen. In der Haltung der Akzeptanz kann man sich wunderbar austauschen, auch bei völlig unterschiedlichem Bewusstsein.
Die Vorstellung der eigenen Räume habe ich schon, solange ich denken kann. Ich hatte leider nie eine Partnerin, die diese Vorstellung mit mir teilte, meine Partnerinnen wollten immer die ganze Zeit mit mir verbringen, alles gemeinsam machen. Deshalb empfand ich meine Partnerschaften immer schon nach kurzer Zeit als Gefängnis, aus dem ich dann auch wieder ausbrach. Beziehungsunfähig lautete dann häufig die Diagnose über mich. Ich habe das nie ao empfunden, ich liebe schöne und vor allem einfache Beziehungen. Ich habe lediglich andere Vorstellungen von der Form der Beziehung als die meisten Menschen.
Ja, und nachdem meine Frage mitsamt der Antwort aufgetaucht war, griff ich mir ob dieser Frage auf den Kopf. Denn ich lebte ja bis vor wenigen Monaten ein Jahr lang in einer Gemeinschaft. Im Grünhexenland. Und dort waren alle Bedingungen erfüllt. Eigener Raum, akzeptierende Menschen, sogar bewusst und souverän. Und diese Gemeinschaft gehört zu den wertvollsten Erfahrungen, die ich gemacht habe. Denn sie zeigte mir, dass meine Vorstellungen nicht nur möglich waren, sondern dass ein solches Leben sehr leicht, einfach und befriedigend ist, gespickt mit unerwarteten Potentialen. Leben eben.
Ich hatte ja mit dem Alleinsein glücklicher Weise nie Probleme in diesem Leben. Ich war immer gerne alleine. Doch hat sich etwas geändert. Früher einmal hat es mir nichts ausgemacht, sehr viel Zeit mit anderen Menschen zu verbringen, ich strebte die Gesellschaft sogar an. Heute ist das Alleinsein ein Grundbedürfnis von mir. Viel Zeit bei und mit mir und für mich ist das Um und Auf. Mit mir fühle ich mich immer wohl, mit mir alleine mache ich meine großen Entwicklungen, nehme mich und meine Weisheit wahr. Wenn diese Zeit mit mir zu kurz kommt, fühle ich mich schnell sehr unwohl.
In den letzten 10 Tagen war die Situation anders, es war keine Situation des Zusammenlebens sondern eine des Besuches. – Ach! Ich glaube, dass es Renate nichts ausmacht, wenn ich ihren Namen erwähne. Sie ist den früheren Besuchern von Open Shaumbra bestens bekannt. – Es war in dieser Situation klar, dass wir die Zeit ihres Hierseins gemeinsam verbringen würden. Sie empfindet das mit dem eigenen Raum genauso wie ich. Auch sie würde darunter leiden, wenn sie ohne eigenen Raum mit Menschen zusammen sein müsste. Noch dazu mit anhaftenden. In diesem Punkt waren wir uns einig.
Nun habe ich ja solche Situation in letzter Zeit öfter erlebt. Und es scheint bei mir eine Grenze von einer Woche zu geben. Eine Woche lang kann ich ohne meine Zeit leben und mit anderen Menschen verbringen. Und dann pocht mein Inneres, das Pochen wird dann sehr schnell sehr heftig. „Reiner! Ich brauche dich!“
Vor ein paar Tagen wurde ich Zeuge davon, wie ein Mann erzählte, dass es ihm zu Weihnachten schlecht ging, weil er ganz alleine war. Ich dachte nur: „Oh Gott! Was für ein Bewusstsein hat der arme Kerl?“ Es ist das klassische duale Bewusstsein, das an anderen anhaftet, wo ein Mensch sein Glücklichsein von der Präsenz und dem Verhalten anderer Menschen abhängig macht. Genau das zu überwinden und mit sich selbst glücklich zu sein ist einer der wesentlichen Punkte im Paradigmenwechsel vom alten zum Neuen Bewusstsein. Ich konnte den Schmerz des Mannes fühlen, und ich dachte mir nur, dass es für ihn Zeit würde, die nächsten Schritte bei seiner Bewusstwerdung zu gehen.
Jetzt gerade fällt mir ein, dass ich mir als junger Mann nichts sehnlicher wünschte, als Weihnachten nur mit mir zu verbringen. Ich stand damals unter dem Druck, immer nach Hause zu meinen Eltern zu fahren, weil meine Mutter sonst Höllenqualen erlitt. Es dauerte ein paar Jahre, bis ich mir selbst endlich wichtiger war als meine Mutter und ich ankündigte, zu Weihnachten nicht nach Hause zu kommen. Ich wollte dann auch nichts anderes tun, ich wollte nicht unter anderen sein. Ich genoss das erste Weihnachten mit mir selbst.
Heute ist Silvester, in wenigen Stunden ist der Jahreswechsel. Am frühen Nachmittag überlegte ich, ob ich ein paar Stunden in mein Stammcafé gehen sollte. Vor ein paar Tagen wurde ich gefragt, ob ich vor dem Jahreswechsel eh noch einmal kommen würde, was ich bejahte. Aber ich hatte keine rechte Lust. Und ich dachte daran, was ich denn am Abend machen würde bzw. sollte. Es ist für mich in Wien nicht schwer, irgendwohin zu gehen, wo ich Bekannte treffe, oder wo viel los ist. Oder jemand anzurufen. Das geht auch ganz spontan und kurzfristig. Und plötzlich merkte ich deutlich, dass ich nicht die geringste Lust hatte, wegzugehen, und dass der Wunsch zu feiern nur aus dem Verstand kam. Gedanken aus dem Massenbewusstsein. Alle feiern heute! Also ist es traurig, wenn ich nicht feiere.
Papperlapapp! Ich folgte sofort meinem Wohlgefühl und beschloss, alleine zu Hause zu bleiben. So feiere ich nun den Anbruch dieses besonderen Jahres 2012 mit mir. In Stille. – Soweit das in Wien möglich ist, denn rundherum fliegen jede Menge Kracher und Feuerwerkskörper.
Ich bin viel alleine und nie einsam. Das – unter anderem das – ist das Schöne am neuen Leben. Es fehlt mir nichts und ich vermisse nichts. Ich bin ja bei mir. Ich liebe mich – und die Zeit mit mir!