Die Illusion des Erwachens

Ihr hattet eine bestimmte Vorstellung von diesem Aufstiegsprozess? Es ist alles ganz anders. Es ist nicht das, was Ihr erwartet habt.

Tobias

Der erwachende Mensch geht im Zuge des Erwachensprozesses durch ein Niemandsland. Sein Ziel ist in Wahrheit ein unbekanntes Land, wo noch fast niemand vor ihm war. Im Niemandsland gibt es weder  angelegte Wege noch Wegweiser, das Neue Land ist noch unerforscht. Sicher ist nur, dass im Neuen Land nichts mehr funktioniert, was im alten Land funktioniert hat. Wir haben also praktisch ausschließlich unbekannte Größen. Trotzdem macht sich der erwachende Mensch Vorstellungen vom Prozess des Erwachens. Dieses Verhalten beruht auf der alten und eingefleischten Gewohnheit, Sicherheiten haben zu wollen, sich an etwas festzuhalten. Und sie beruht auch auf den alten Maßstäben der getrennten Menschen in der alten Energie. Maßstäbe, die festlegen, was als gut und schlecht, erfolgreich und nicht erfolgreich zu gelten hat.

In einem Satz zusammengefasst kann man sagen: Der Erwachende glaubt, dass im Prozess des Erwachens stetig alles immer besser wird, bis am Ende alles ganz gut ist. Gut und besser gemessen an alten menschlichen Maßstäben.

In Phase 1 glaubt oder hofft der Erwachende, bald einen Modus vivendi gefunden zu haben, wie er das einfache, stressfreie Leben mit deutlich weniger Wahnsinn bewerkstelligen kann. In Phase 2 glaubt er, sukzessive immer mehr über verschiedene Energien und Wesenheiten zu wissen, immer mehr von diesem Wissen anwenden zu können, bis er am Ende alles weiß, was man als Mensch auf der Erde über die jenseitigen und feinstofflichen Dinge wissen kann.

In Phase 3 glaubt der Mensch, er würde nun stetig immer gesünder, sofern er es noch nicht ist, und eventuell auch jünger. Sein Selbstwert würde immer besser, er würde sich täglich mehr lieben, bis er das Gefühl hat, sich nicht noch mehr lieben zu können. Er würde immer besser darin, bewusst das zu manifestieren, was er als dualer Mensch in der alten Energie manifestieren will. Er würde sich seiner selbst und des Lebens an sich immer bewusster, bis er schließlich alles von sich weiß. Seine Geldprobleme würden immer kleiner, bis er in einem Meer finanzieller Fülle schwimmt. Er würde sukzessive alte Themen wie Schuldgefühle, Belastungen, Begrenzungen, Selbstwertprobleme, Scham, Verletzungen aller Art u. dgl. aufarbeiten und hinter sich lassen. Mit jedem abgehakten Thema würde er freier und weiter in der Neuen Energie sein. Er würde nach und nach alles, was er jemals war und erschaffen hat, in sein Leben integrieren, alle Teilpersönlichkeiten und Aspekte seines Seins.

All das sind nur ein paar wenige Beispiele, weit keine vollständige Liste.

In Phase 4 glaubt der Mensch, er hat alles geschafft und fühlt sich integriert und vollständig. Jetzt würde es aber so richtig losgehen mit dem Neuen Leben! In Phase 5 schwelgt er im Hochgefühl und fühlt sich als Meister aller Klassen. – Mit ein paar Widerhaken, es fühlt sich alles noch nicht ganz rund und ausgegoren an.

Alles in allem glaubt der erwachende Mensch die ganze Zeit über, der Weg vom „niedrigen“ schlafenden Menschen zum „hohen“ erwachten, göttlichen Wesen sei eine lineare Strecke von unten nach oben, auf der ständig alles besser werden müsse. Und er möchte so gerne den anderen Menschen erzählen, wie gut bei ihm schon so vieles sei.

Erleben tut der Mensch aber etwas ganz anderes. Über weite Strecken wird nicht nur nichts besser, sondern es wird alles schlechter. Er verliert Freunde, geliebte Menschen, Ansehen, seine Gesundheit, Jobs, Dinge, Geld, seinen Partner, seinen Verstand, sein Urteilsvermögen und seine Fähigkeit, das Leben genießen zu können, weil es nur noch aus Leid zu bestehen scheint. Leider hat er aber diese dumme Illusion, dass alles immer besser werden müsse, was sein Leid vervielfacht. Zu allem Überfluss sieht er dann noch andere spirituelle Menschen, die angeblich alles Mögliche schon „geschafft“ haben. Sie haben ewig ein strahlendes Lächeln im Gesicht, um ihren Erfolg und ihr Glück zu demonstrieren. Ewig erzählen sie Erfolgsgeschichten über ihr schönes, erwachtes Leben. Während der Erwachende in der Hölle schmort. Sein Leid wird noch größer.

Schließlich glaubt er auch noch, dass aufgrund seiner bisher geleisteten Arbeit seine Ausstrahlung und sein Energiefeld eine faszinierende und magisch anziehende Wirkung auf andere Menschen und Tiere haben müsse. Doch oft erlebt er, dass ihm Menschen und Tiere aus dem Weg gehen, anstatt von ihm angetan und begeistert zu sein.

In Wahrheit sieht der Erwachensprozess ganz anders aus: Er ist ein Prozess des Sterbens, der etliche Jahre dauert. Der Mensch stirbt bei lebendigem Leib, und das über Jahre. Das ist nicht besonders angenehm. Mit menschlichen Augen betrachtet wird über Jahre tatsächlich sehr vieles immer schlechter statt besser, gemessen an alten, menschlichen Maßstäben. Das menschliche Selbst stirbt und kämpft gleichzeitig um sein Überleben. Es muss sterben, damit das göttliche Selbst geboren werden kann. Und es gibt in diesem Prozess keine gewohnten Sicherheiten. Ein Mensch, der sich an alte Sicherheiten klammert, macht es sich noch schwerer, er leidet noch mehr. Zu allem Überfluss setzt sich der Erwachende in dieser Zeit immer mehr dem Spott seiner Umgebung aus, wo er ohnehin schon überdurchschnittlich verletzlich in seiner Metamorphose ist. Im Extremfall hat er keine Freunde, keinen Partner, kein Geld, gesundheitliche Probleme, ist hypersensibel und verletzlich bis zum Anschlag, wird von Ängsten gequält ohne Ende, wird von seiner Umgebung und von Teilen seiner eigenen Persönlichkeit verspottet – und kann doch nicht anders, als diesen Weg weiter zu gehen. Es müsste nicht so schlimm sein, es wäre immer für ihn gesorgt, er hätte alles, was er braucht, wenn er nur seiner noch weitgehend unbekannten Göttlichkeit vertrauen könnte. Aber das weiß er nicht, und vertrauen ist schwer.

Mit göttlichen Augen betrachtet wird in der schwierigen Phase des Übergangs in die Neue Energie gar nichts schlechter. Im Gegenteil, es wird alles immer besser. Was dem Menschen problematisch und qualvoll erscheint, ist für den Gott das notwendige Loslassen aller alten, menschlichen Dinge. Und tatsächlich lässt der Mensch immer mehr los. Er macht immer mehr Platz für sein neues, göttliches Selbst. Die Krankheiten und körperlichen Schmerzen sind Loslassprozesse des Körpers. Freunde und Partner aus der alten Energie kann der Mensch in der Neuen Energie nicht brauchen, sie würden ihn auf seinem Weg nur bremsen. Alle alten Wertvorstellungen und Glaubenssysteme müssen gehen, damit der Mensch vollständig erwachen kann. Deshalb erlebt er, dass immer weniger der alten Dinge funktionieren, bis schließlich gar nichts mehr funktioniert. Der Mensch sieht sich dabei am Ende, doch in Wahrheit dient das alles nur dazu, die Augen für das Neue zu öffnen, denn das Alte hat ausgedient und muss weg.

Die Illusion des Erwachens beruht also einfach auf dem Anwenden altenergetischer Maßstäbe auf den Erwachensprozess und der Vorstellung, dass der Mensch zu einer Superraupe wird und nicht zu einem Schmetterling. Aus der Sicht des alten menschlichen Selbsts wird im Erwachensprozess nichts besser, denn das alte menschliche Selbst stirbt. Dennoch ist der Erwachende geneigt, immer wieder seine alten Bewertungsmaßstäbe hervor zu kramen und anzuwenden. Damit hält er an der Illusion fest und wird immer und immer wieder enttäuscht.

Natürlich gibt es in dem ganzen Prozess Zeiten und Momente, wo das Leben auch aus der alten, menschlichen Sicht besser zu werden scheint. Der Mensch hat eine Krankheit losgelassen, ein paar alte Themen und das Bedürfnis, Drama zu machen, um sich daraus zu nähren. Dadurch wird das Leben um einen Quantensprung einfacher, es ist mehr Platz für Freude. Und diese Zeiten und Momente bestärken den Menschen in der Illusion, dass eben alles immer besser werden müsse. Wird es aber nicht, nicht aus alter menschlicher Sicht. Es kommt mit Sicherheit der nächste Abschnitt, wo der Mensch wieder in die Hölle wandert (aus alter Sicht), um endlich seine Illusion loszulassen und seinen Blick auf die Dinge zu verändern.

Der ganze, an sich schon genügend herausfordernde Prozess des Erwachens verläuft viel angenehmer, schmerzfreier und anmutiger, wenn der erwachende Mensch die ganze Zeit über Bewusstheit darüber hat, was wirklich passiert, und sich nicht der Illusion des Erwachens hingibt.

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