Wichtig und nicht dringend

Als ich noch berufstätig war, also in einem früheren Leben, wurde ich von der Firma auf ein Seminar für Führungskräfte geschickt. Auswärts, in einem Seminarhotel außerhalb von Wien. Soweit ich mich erinnere, dauerte es zwei oder drei Tage lang. (Es gab dann später noch einmal eine Fortsetzung, aber das tut hier nichts zur Sache.) Vor diesem Seminar gab es eine Besprechung mit dem Trainer. Er war mir auf Anhieb unsympathisch. Mit entsprechendem Widerwillen bin ich zu dem Seminar gefahren. Das heißt, nicht ganz. Denn ich hatte damals schon Strategien entwickelt, wie ich mit Ablehnung und Widerwillen umging. (Das muss 2004 gewesen sein.) Ich hatte mir vorgesagt, dass ich sicher etwas lernen könnte, zumindest irgendwas. Dadurch hatte ich eine Tür geöffnet und saß nicht von Anbeginn total verschlossen da, was nur bewirkt hätte, dass nichts zu mir durchgedrungen wäre. Mein Widerstand war weg.

Alleine das ist schon etwas, was du dir zu Herzen nehmen kannst. Widerstand verhindert etwas, er ermöglicht nichts. Gar nichts. Ich habe von dieser Strategie auch später, als ich mich in meinem Erwachen befand, oft Gebrauch gemacht. ZB, wenn mir eine Kellnerin in einem Café unsympathisch war und ich ewig auf meine Bestellungen warten musste. In so einem Fall habe ich mir gesagt, dass ich sicher irgendetwas an ihr finden würde, was ich mag. Und dann hat es nicht lange gedauert, und es drängte sich mir förmlich etwas auf. Und dann habe ich auf die Elemente geschaut, die ich mochte. Und prompt wurde die Kellnerin viel freundlicher und zugänglicher und bediente mich bevorzugt. So einfach ist die Welt. smiley

Aber zurück zum Seminar. Wie du dir jetzt vorstellen kannst, war mir der Trainer nicht lange unsympathisch. Und im Lauf des Seminars entwickelten wir ein richtig gutes Verhältnis. Ich würde sogar von Zuneigung sprechen. Ich denke heute noch öfter an ihn, ich habe viel durch ihn gelernt. Eines dieser vielen Dinge war eine neue At der Priorisierung. Der Normalfall der Prioritätensetzung in der Geschäftswelt (und nicht nur dort) ist die Kombination von wichtig und dringend, die dann diese Prioritäten ergibt:

1: Wichtig und dringend
2: wichtig, aber nicht dringend
3: dringend, aber nicht wichtig
4: nicht wichtig und nicht dringend.

Demgemäß befassen sich alle Mitarbeiter einer Firma zuallererst und überwiegend mit Dingen, die wichtig und dringend sind. Wenn dann Zeit bleibt, kommen die wichtigen Dinge dran, die nicht dringend sind. Und wenn dann immer noch Zeit bleibt, kommen die dringenden Dinge dran, die nicht wichtig sind. Aber oft werden die sogar den wichtigen und nicht dringenden Dingen vorgezogen. Ja, und ab und zu befasst man sich dann mit Dingen, die weder wichtig noch dringend sind.

Unser Trainer sagte uns nun, dass diese Priorisierung genau verkehrt ist. Priorität 1 wäre wichtig und nicht dringend. Und erst Priorität 2 wäre die, die alle für die Priorität 1 halten. Seine Begründung war einfach und für mich auf Anhieb einleuchtend. Wenn man sich zuerst immer mit Dingen befasst, die dringend sind, kommt man nie dazu, sich mit wirklich wichtigen Dingen zu befassen, weil alles, was in der Priorisierung dahinter kommt, früher oder später (meist früher) dringend wird. Und so ist man immer am Hinterherlaufen, man ist immer getrieben, anstatt bewusst gestalterisch tätig zu sein. Was dann natürlich auch viel mehr Freude an der Arbeit mit sich bringt.

Der Trainer konkretisierte sein Konzept am Beispiel einer Besprechung. Am Beginn der Besprechung klärt man die Prioritäten. Und hier noch einmal: Priorität 1 ist wichtig und nicht dringend. Man verbringt dann 50% der Zeit mit Priorität 1. Anschließen 25% mit Priorität 2, also mit Dingen, die dringend sind. Dann 5-10% mit Priorität 3, ebenfalls dringend. Priorität 4 wird gestrichen und nicht besprochen. Der Rest der Zeit ist für Unterhaltung da, für Socializing, wie das heute so schön heißt.

Meine Kollegen waren skeptisch ob der Umpriorisierung. Ich habe wenig gesagt, ich wusste einfach für mich, dass der Trainer recht hatte. Und ich wusste, dass dies bei weitem nicht nur für die Arbeitswelt galt, sondern für mein Leben überhaupt.

Ich war sehr froh ob dieser Erkenntnis, und ich war der Einzige, der sie sofort nach dem Seminar umsetzte. Mit durchschlagendem Erfolg, wie sich bald zeigte. Als erstes erklärte ich das Konzept meinen Mitarbeitern, die auch skeptisch waren. Wir machten einmal pro Woche eine Besprechung. (Auch vor dem Seminar schon.) Jeder brachte die Punkte ein, die er besprechen wollte. Dann war jeder aufgefordert, seine Punkte zu priorisieren. Gemäß meinem Führungsstil gab ich keine Prioritäten für die Punkte der anderen vor. Und da merkte ich schon, wie jeder Mitarbeiter seine Priorisierung ernsthaft machte, Manchmal war dann jemand traurig, weil er Priorität 4 geben musste. Unsere Besprechung lief dann nach dem Zeitplan ab.

Ich blieb natürlich nicht bei den Besprechungen, sondern verordnete das auch für die Arbeit. 50% der Arbeitszeit sollten für Tätigkeiten verwendet werden, die wichtig und nicht dringend waren. Es zeigte sich sehr schnell, dass wir alle plötzlich viel mehr Zeit für Wichtiges hatten und das Dringende dennoch nicht liegen blieb. Es konnte sich einfach nie etwas Dringendes vorschieben, weil es nicht mehr viel Dringendes gab. Dadurch, dass wir davor schon wichtige Dinge erledigt hatten, wurde kaum mehr etwas dringend. Ich glaube, meine Mitarbeiter waren von der neuen Priorisierung noch mehr begeistert als ich.

Es gab dann eine große Umorganisation unserer Abteilung. Alle bekamen neue Aufgaben, die ihnen davor völlig fremd waren. Unser Team war das einzige, das all das in kürzester Zeit ohne Probleme bewältigte. Nur durch eine andere Prioritätensetzung! Wir wurden wirklich oft gefragt, wie wir das denn machten. Aber niemand machte es uns nach. Menschen lieben eben ihre alten Gewohnheiten.


Hast du beim Lesen auf dein eigenes Leben geschaut? Wenn nicht, dann tu es jetzt. Ich rede nicht von Berufsleben und Privatleben, ich rede von deinem gesamten Leben. Wie viel Zeit verbringst du täglich mit Dingen, die dringend sind? Und wer sagt überhaupt, dass sie dringend sind? Fühlst du dich getrieben oder angetrieben? Das kommt daher, dass du dich mit dringenden Dingen beschäftigst. Und wo bleiben die wichtigen Dinge? Etwa unerledigt oder unbeachtet? Die verursachen dann das, was manche Leute Seelenschmerzen nennen. Denn die Seele klopft recht deutlich beim Menschen an und äußert sich dann körperlich, wenn der Mensch nicht zuhört. Dann hast du wirklich körperliche Schmerzen und Probleme.

Ich habe mir heute wieder selbst ein schönes Beispiel geschenkt. Ich bin an meiner aktuellen Arbeit gesessen, und mein Verstand hat die nächsten Tätigkeiten geplant. Ich muss dazu sagen, dass diese Dinge bei mir eh sehr entspannt ablaufen, Stress kommt da nicht auf. Trotzdem ist mir das Spiel des Verstandes aufgefallen. Und ich habe gesagt: „Wer plant da? Wer sagt mir da, was wichtig und angeblich dringend ist? Ich sage etwas anderes. Ich sage, dass es jetzt wichtig ist, den Schreibtisch zu verlassen, ein bisschen zu atmen, zu fühlen, zu sein - und eine Zigarette zu rauchen. Und vielleicht was zu essen, und vielleicht noch eine Zigarette zu rauchen. Und vielleicht dann etwas ganz anderes zu machen.“ So ist dann übrigens dieser Blogeintrag entstanden. wink

Meine Botschaft ist also: Achte darauf, ob du dich mit wichtigen oder mit dringenden Dingen beschäftigst. Das Dringende macht dir letztlich das Leben zur Hölle. Ja, ich weiß, da meckert der Verstand immer ganz heftig. „Aber du musst das jetzt tun! Sonst ...“ Sonst was? Etwa sonst das Leben? Lass ihn meckern.

Glossar