Menschen verwenden den größten Teil ihrer Energie dafür, etwas in ihrem Leben aufrechtzuerhalten. Ihren Job oder ihr eigenes Unternehmen, ihre Familien, ganz allgemein ihre Beziehungen, natürlich ihre Gesundheit, ihren Status, ihren Glauben, ihre Wohnungen und Häuser, ihre Existenz. Ganz allgemein gesprochen versuchen sie ständig, ein Bild aufrechtzuerhalten. Das Bild, das sie von sich selbst haben und das Bild, das sie anderen gegenüber zeigen wollen. Und dann beginnen die Lügen. Dass sie andere belügen, ist nicht schön, aber eher unwichtig. Viel wichtiger sind die Lügen, die sie sich selbst täglich erzählen. Glaubenssätze werden getrommelt, damit sie einen Grund haben, ihre Bilder aufrechtzuerhalten.
Mir ist das kürzlich krass aufgefallen, als ich mir ein paar Webseiten von Leuten ansah, die im spirituellen Umfeld tätig sind und ihre Dienste offerieren. Ich tue das höchst selten, weil ich ja keine Inspiration von diesen Menschen brauche. So einmal im Jahr (wenn überhaupt) komme ich auf die Idee, mich zu fragen, was denn die anderen so machen. Und dann schaue ich mir ein paar Seiten an. Und da habe ich deutlicher als früher gesehen, wie sie alle ihr Business am Laufen halten. Da muss täglich oder zumindest wöchentlich etwas Neues platziert werden, am besten regelmäßig. „Jeden Dienstag gibt es meinen Energie-Update. / Jeden ersten Montag im Monat kommt meine gechannelte Botschaft. / Ich schreibe täglich etwas in meinem Blog. / Zu jedem Monatsersten kommt mein Newsletter. / Versäume nicht meine viele Extraangebote."
Das ist schrecklich! Ganz fürchterlich schrecklich! Ich habe sofort ein sehr enges Korsett gefühlt, als ich das alles gelesen habe. Ich selbst tue natürlich nichts dergleichen. Regelmäßige Besucher meiner Seite wissen, dass es oft monatelang keinen neuen Beitrag von mir gibt. Mein Newsletter kommt bloß ein paarmal im Jahr, unregelmäßig. Ich zwinge mich doch nicht selbst in Tages-, Wochen- und Monatspläne! Das wäre ja das Gegenteil dessen, was ich leben will.
Diese Leute, von denen ich da spreche, sind alles Menschen, die bedeutende Erkenntnisse hatten. Und dann wollten sie ihre Erkenntnisse teilen und suchende Menschen unterstützen. Und dann sind sie recht schnell in ein Rad gekommen, in dem sie nichts anderes tun, als ihren Betrieb und ihr Bild aufrechtzuerhalten. Auf der Strecke bleibt das Leben. Und dann auch die Erkenntnisse, also die Verbindung zur Seele, weil sie sich überwiegend im Verstand aufhalten, um alles am Laufen zu halten.
Schau auf dich selbst und sei ehrlich mit dir. Was ist es bei dir? Was erhältst du aufrecht? Was hältst du am Laufen? Deinen Arbeitsplatz? Was tust du alles, um Ihn zu erhalten und dort das „richtige" Bild von dir zu vermitteln? Deine Familie? Oh, da fließt unendlich viel Energie hinein, nicht wahr? Ebenso viel wie in dein Unternehmen, wenn du eines hast. Versucht du, deinen Status aufrechtzuerhalten? Materiell oder immateriell. „Ich bin anders als die anderen. Also muss ich täglich darauf achten, anders zu sein und anders zu wirken." Wie sieht es mit deinem Glauben aus? Der ist sehr wichtig. Ich spreche nicht von Religion, sondern von den unzähligen Glaubensvorstellungen, die du von dir und der Welt hast und davon, wie die Welt funktioniert. Musst du dir immer wieder vorsagen, dass es so und so ist? Menschen merken nicht, wie viel Energie sie in die Aufrechterhaltung ihres Glaubens stecken. Wenn nur wenige Glaubenssätze erschüttert werden, dann bricht ihre gesamte Welt zusammen. Wörtlich.
Warum? Wozu? Wofür? Ich meine das ganz ernst. Wofür erhältst du etwas aufrecht? Was würdest du verlieren, wenn du damit aufhören würdest? Denk darüber nach und fühle es. Was würdest du verlieren? Wie fühlt es sich an, wenn das alles nicht mehr da ist? Etwa leichter? Etwa freier? Und dann stell dir die nächste Frage: Was würdest du gewinnen? Etwa dich? Etwa das Leben? Und dann noch einmal die Frage: Warum, wozu, wofür?
Was immer es im Detail auch ist, das Menschen aufrecht erhalten, das zentrale Thema ist immer eines: sie erhalten ihre Identität aufrecht. Die Identität, das ist das Bild von sich selbst, der Glaube über sich selbst und damit das Bild nach außen und der Glaube über die Welt und ihr Funktionieren. Die Vorstellung davon, welchen Platz sie in der Welt einnehmen.
Ich bin ein toller Sportler und habe einen tollen Körper; ich bin eine gute Mutter; ich bin der Familienernährer; ich bin ein Künstler; ich habe Verantwortung für die Mitarbeiter in der Firma; ich bin ein Taugenichts; ich bin spirituell; ich bin ein großer Lehrer. Das alles sind Identitäten, und die Liste ist natürlich unendlich lang. Und Menschen setzen alles daran, ihre Identität bis zum Gehtnichtmehr und darüber hinaus aufrechtzuerhalten. Was es auch kostet.
Im Erwachensprozess beginnt die Identität zu zerbröseln. Das heißt, das ist der natürliche Prozess. Ich habe aber viele Erwachende kennengelernt, die sich diesem Prozess mit Gewalt entgegenstellen und ihre alte Identität aufrechterhalten. Andere lassen einen Teil ihrer Identität gehen und füllen die Lücke sofort mit einer neuen Identität, die üblicher Weise in etwa so aussieht: „Ich habe sooo viel gelernt über meine wahre Natur und darüber, was in der Welt wirklich vorgeht. / Ich bin schon sooo weit gekommen, mir fehlt nur noch ein kleines Stück. / Ich bin schon weiter als die meisten anderen."
Und dann gibt es die, die ihre Identität wirklich ganz natürlich sterben lassen. Die haben es natürlich am leichtesten. Ich gehörte zu dieser Gruppe und sah zu, wie mein Ansehen, meine Freunde und mein Glaube verschwanden und meine Welt sich total veränderte. Und dann teilte ich meine inneren Vorgänge und meine Erkenntnisse auf meiner frisch erschaffenen Webseite. Und nach ziemlich kurzer Zeit hatte ich einen neuen Status, ein neues Ansehen, also eine neue Identität. Ich war zu so etwas wie einem Guru geworden. Nicht wenige Menschen sahen zu mir auf. Das hat mir natürlich sehr geschmeichelt, bereitwillig nahm ich meine neue Identität an.
Nun war ich also der erleuchtete Meister. Und begann sofort, Energie in diese Identität zu stecken. Wie verhält sich ein erleuchteter Meister? Er muss wohl irgendwie allwissend sein und auf alles eine Antwort haben. Er muss irgendwie über den Dingen stehen. Er muss auch immer wieder zeigen, wie großartig sein Leben ist. Natürlich hat er keine Schwächen und bleibt immer gelassen. Er muss irgendwie heilig sein. Naja, ich versuchte halt nach Kräften, meine neue Identität zu nähren und sie damit nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern sie wachsen zu lassen.
Ich beschreibe das, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie schnell es geht, nach dem Verlust einer Identität eine andere aufzubauen. Das steckt im Menschen drin. Mir ist das aber aufgefallen, also war es Zeit für mich, die nächste Identität sterben zu lassen. Nieder mit dem erleuchteten Meister!
An Identitäten ist grundsätzlich nichts verkehrt, ganz im Gegenteil. Wir brauchen Identitäten, um Erfahrungen zu machen. Wenn ich den erleuchteten Meister spiele, mache ich andere Erfahrungen als wenn ich einen Projektleiter spiele. Der Arme macht andere Erfahrungen als der Wohlhabende. Die fürsorgliche Mutter macht andere Erfahrungen als der Vamp. Der Gesellschaftstiger andere Erfahrungen als der Einzelgänger.
Es gibt nur ein einziges Problem mit der Identität. Nämlich den Glauben, das ich das bin. „Ich bin die fürsorgliche Mutter, die ihre ganze Kraft für die Familie aufwendet. Punkt." Bestenfalls sind noch zwei, drei kleinere Nebenidentitäten erlaubt und akzeptiert, aber das war's dann auch schon. Der größte Teil der Energie wird aber für die Hauptidentität aufgewendet.
Genau genommen ist das Problem nicht der Glaube, dass ich das bin, sondern der Glaube, dass ich nur das bin. Ich bin aber das Wesen, dass sich beliebige Identitäten gibt, das mit ihnen spielt. Ich kann den galanten Gentleman spielen, solange es mir Spaß macht. (Was ich übrigens eine Zeit lang tatsächlich gemacht habe. Das waren lustige Erfahrungen! ) Ich kann den perfekten Tänzer spielen, die souveräne Führungskraft, den armen Schlucker, den beliebten Partygast, den etwas dümmlichen Typ ... was auch immer. (Habe ich alles gemacht.) Der Punkt ist: Wenn ich das spiele, weil mir die Sache mit den Identitäten bewusst ist, dann kostet es mich keine Energie. Im Gegenteil, es bringt mir Energie. Ich muss keine dieser Identitäten aufrechterhalten. Der Tänzer ist futsch. Was macht das schon? Der erleuchtete Meister ist futsch. Was macht das schon?
Der größte Teil der Energie eines Menschen fließt in die Aufrechterhaltung seiner Identität. Und wenn du dich fragst, wieso du Mangel an Geld, Beziehungen und Gesundheit hast, also Mangel an Energie bestimmter Formen, dann hast du jetzt eine wesentliche Antwort darauf.