Goldgräber

Heute ist unmittelbar nach dem Aufstehen etwas Bemerkenswertes geschehen. Ich habe mich gefragt, oder besser, ein Teil von mir hat gefragt, was ich heute zu tun habe. Und als ich dann festgestellt habe, dass ich nichts zu tun habe, so wie jeden Tag, wurde dieser Teil von mir nervös. Und ich habe mich von dieser Nervosität anstecken lassen, für ein paar Augenblicke. Ich habe mich noch einmal in mir umgesehen, ob ich etwas übersehen oder vergessen hatte, aber da war nichts. Ich habe heute nichts zu tun. Ich war beruhigt und fühlte beim Frühstück diesem Teil nach, der schien mir nämlich höchst interessant.

Nun, der erste Absatz war noch nicht das Bemerkenswerte. Das Bemerkenswerte war, dass ich einen Teil von mir entdeckt habe, den ich noch nicht kannte! Ich habe ihm also nachgefühlt, um ihn besser kennenzulernen. Da gibt es einen Teil in mir, der es mag, wenn man ihm/mir sagt, was er/ich zu tun hat/habe. Und dann fühlt er sich so richtig wohl, dann ist alles in Ordnung. Dann kann er tun, was ihm aufgetragen wurde und anschließend Rechenschaft ablegen. Und dann kann er sagen: „Sieh her, ich habe alles gemacht, was mir aufgetragen wurde. Ich war brav. Sag mir morgen wieder, was ich zu tun habe.“ Anweisungen sind für diesen Teil ein Halt. Freiheit braucht er nicht, die ist viel zu haltlos und ungewiss.

Nun ist es so, dass ICH in meiner ganzen Inkarnation genau das nie mochte. Von Kindheit an. Ich habe es immer verabscheut, Anweisungen zu befolgen und Vorgaben zu bekommen. Da kann man meine Eltern fragen, meine Lehrer an der Schule und an der Uni und all meine früheren Arbeitgeber. Die Arbeit ist mir noch näher als die Kindheit und Jugend. Ich habe mir immer Jobs gesucht, bei denen ich keine Vorgaben hatte. Und wenn es ein Vorgesetzter einmal versucht hat, gab es Probleme. Er hat es dann nie wieder versucht. Ich wurde schon sauer, wenn etwas beschlossen wurde, was mich auch betraf, ich aber nicht mitentscheiden konnte. Wenn also zB in der Abteilung jemand eingestellt wurde. Meine Sicht war, dass ich ja schließlich mit dem neuen Kollegen zusammenarbeiten musste. Also wollte ich nicht, dass so eine Entscheidung ohne mich getroffen wurde.
Nach meinem Erwachen waren dann Anweisungen und Vorgaben auf jeden Fall ein absolutes No-Go. Und jetzt entdecke ich diesen Teil. Er ist ohne Zweifel von mir, er kommt nicht aus dem Massenbewusstsein. Ich kann ihn deutlich ganz tief unten fühlen.

In weiterer Folge habe ich mir Dinge in Erinnerung gerufen, die ich sehr wohl kenne. Konkret das Rechtfertigen, das ist mir gut bekannt. Wenn ich so einen ganzen Tag für mich bin, spinnt mein Verstand natürlich alle möglichen und unmöglichen Gedanken. Und dabei taucht immer wieder auf, dass ich mich in Gedanken rechtfertige. Der Anlass ist völlig nebensächlich. Die Gedanken müssen sich gar nicht darum drehen, dass ich etwas angestellt oder schlecht gemacht hätte. Einfach so laufe ich gedanklich in eine Rechtfertigungsschiene, für was auch immer oder für nichts. Ich frage mich natürlich gelegentlich, warum das noch immer da ist. Natürlich habe ich mich in meinem alten Leben ständig gerechtfertigt. Nicht nur im Job, auch bei Freunden. „Ich sage / mache das deshalb, weil …“ Alles nach den drei Punkten ist Rechtfertigung. Aber dieses Leben habe ich schon seit mindestens eineinhalb Jahrzehnten nicht mehr. Da könnten doch die Rechtfertigungen einmal auslaufen.

Aber gut, sie gehen nicht tief. Sie triggern nicht einmal Emotionen, geschweige denn echte Gefühle. Also haben sie keine wirkliche Bedeutung für mich. Falsch, hatten. Seit heute haben sie eine Bedeutung, weil ich diesen unbekannten Teil entdeckt habe. Dieser Teil legt am Ende des Tages gerne Rechenschaft ab. Er mag das, er tut es gerne. Und somit sind seit heute diese gedanklichen Rechtfertigungen, die nicht tief gehen, die äußerte Oberfläche dieses Teils von mir, der sehr tief unten sitzt / gesessen ist. Mit Kenntnis dieses Teils verstehe ich so manches besser. Nicht nur das, was ich bisher beschrieben habe.


Eine weitere Sache ist mir im Zuge des heutigen Erlebnisses recht schnell eingefallen. Ich habe sie vor ein paar Tagen, irgendwann vorige Woche erlebt. Ich dachte an ein Lokal, das sich auf einem kleinen Platz befindet, den ich öfter besuche, weil er in meiner Nähe liegt und ich relativ oft daran vorbei komme. Genauer gesagt dachte ich daran, dieses Lokal zu besuchen, um ein kühles Bier zu trinken. Der Gastgarten ist umgeben von alten, hohen Bäumen. Ich war insgesamt nicht öfter als zwei, drei Mal in diesem Lokal. Es ist nicht weltbewegend, eigentlich gibt es hauptsächlich gutes Bier, eine große Speisekarte und Personal, das der Form nach sehr freundlich, aber etwas manieriert ist.

Als ich daran dachte, dorthin zu gehen, bin ich gleich mit meinem Gefühl dort gewesen. Und dieses Gefühl zeigte mir etwas. Ich dachte daran, dass man dort sofort eine Speisekarte vorgelegt bekommt, wenn man Platz nimmt. Ich wollte aber nur Bier trinken. Für das Lokal ist das kein Problem, doch ich fühlte etwas in mir. Ich fühlte einen Teil, der glaubt, sich das Wohlwollen anderer erkaufen zu müssen. Im konkreten Fall bedeutet das, ich hätte entweder auch essen oder zumindest mehrere Biere trinken müssen, am besten viele. MIR war aber nur nach einem. Das Schöne für mich an dieser Sache war, dass ich diesen Teil in mir in seiner vollen Pracht fühlte.

Die oberste Maxime dieses Teils ist Wohlverhalten. Dazu bedarf es Regeln, die andere Leute aufgestellt haben. Er ist mir nicht neu, ich kenne ihn einigermaßen gut. Neu war bloß die Tiefe, in der ich ihn wahrgenommen habe. Das brachte eine neue Qualität. Und so habe ich bei meinem heutigen Erlebnis recht schnell eine Verbindung zu jenem Erlebnis gehabt. Bei beiden war die Tiefe gleich.

Schließlich gibt es noch etwas, was mir heute sehr schnell eingefallen ist, nämlich der Glaube an eine höhere Macht. Gedanken und Vorstellungen von einer höheren Macht tauchen immer wieder in mir auf. Natürlich sehr gerne, wenn ich kein Geld habe. Das ist natürlich Unsinn, weil ich ja sehe, dass und wie ich mir meinen Mangel erschaffen habe, aber diese Vorstellungen kommen halt. Und dann frage ich mich gelegentlich: „Bin ich ein verdammtes Opfer, oder was?!“

Ich würde sagen, dass diese höhere Macht seit ca. zweieinhalb Jahren ganz stark an Bedeutung verloren hat. Davor konnte ich sie physisch ausmachen, wenn diese Vorstellungen auftauchten. Sie befand sich rechts vorne über mir. Wenn ich also den rechten Arm nicht ganz gerade in die Höhe streckte, deutete das in die Richtung der höheren Macht. Das ist aber, wie gesagt, vorbei. Rechts oben sitzt nichts mehr, und auch sonst nirgends.

Und heute dieser Teil in mir, der gerne gesagt bekommt, was er zu tun hat. Ja, von wem bekommt er denn seine Anweisungen? Das ist nämlich undefiniert geblieben. Er bekommt sie von einer höheren Macht, wer oder was auch immer das sein möge. Gott oder das Massenbewusstsein oder eine schöne Frau, die er begehrt, oder was weiß ich. Es gibt für ihn jedenfalls eine höhere Macht.

Da war heute noch etwas, das ich sehr bemerkenswert fand. Ich habe ja weiter oben geschrieben, dass ICH in meiner ganzen Inkarnation nie Vorgaben und Anweisungen mochte. Und da habe ich mich gefragt, was ich in dieser Frage mit ICH meine. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich mein ganzes menschliches Selbst meine. Normalerweise schreibe ich ICH, wenn ich das ganze Wesen meine, also Seele und Mensch (mit all seinen Aspekten). In diesem Fall bin ich mir allerdings nicht sicher, ob ich die Seele mit einschließen kann. Es ist mir irgendwie so vorgekommen, als ob die Seele auch noch so einen Teil hat, der gerne gesagt bekommt, was er zu tun hat. Für meinen Verstand ergibt das zwar überhaupt keinen Sinn, aber da war so ein Gefühl. Nun, wie gesagt, ich bin mir nicht sicher.


Ich finde das alles ziemlich erheblich. Ein Teil von mir, den ich überhaupt nicht kannte, ist nun entdeckt worden. Oder, wie ich bei solchen Gelegenheiten gerne sage, er ist ins Licht meines Bewusstseins getreten. Dieser Teil will gesagt bekommen, was er zu tun hat, nur dann fühlt er sich wohl.

Ein anderer Teil liebt es, sich wohl zu verhalten. Dadurch möchte er beeindrucken. Und für beide gibt es eine höhere Macht. Der eine erhält Anweisungen von ihr, der andere will sie beeindrucken.
Für mich gehört das alles zusammen. Für mich ergibt das ein großes Ganzes. Wie ich bereits in Es dauert (nicht) lang geschrieben habe, fühle ich mehr denn je, dass ich am Kern bin, dass es nicht mehr tiefer geht.

Ich fühle mich wie ein Goldgräber. Für mich sind das keine schlimmen Sachen, die ich da entdecke, für mich ist das pures Gold. Ich genieße diese Entdeckungen außerordentlich und freue mich, dass sie mir nun bewusst sind. Vorher waren sie im Dunkeln und haben von dort aus Dinge bewirkt, die mir gar nicht gefallen haben.

Der Anweisungsempfänger, der Wohlverhalter und die höhere Macht haben ja immer wieder mein Verhalten bestimmt. Das sehe ich jetzt deutlicher denn je. Sie waren ein Überlebensmuster. Aber ich will nicht überleben, ich will leben.

Aus meinem Selbstverständnis heraus habe ich mich die meiste Zeit anders verhalten. Ich ließ mir nicht sagen, was ich zu tun hatte; ich habe mich nicht wohl verhalten; und ich ließ schon gar keine höhere Macht für mich gelten. Aber diese Anteile waren da, und so ist es in mir immer wieder zu Kleinkriegen gekommen, die vereinzelt gar nicht so klein waren.

Wie wunderschön, dass jetzt alles am Tisch liegt. smiley
Der einzige Unterschied zu echten Goldgräbern ist, dass die nach Gold suchen. Ich suche nicht, es taucht von selbst auf. smiley


Ich möchte schließlich über noch etwas schreiben, das zwar nicht direkt zum heutigen Thema gehört, aber es ist bemerkenswert. Genauso bemerkenswert wie die anderen Sachen heute.

Ebenfalls vorige Woche habe ich etwas erlebt, das ich heuer schon mehrmals erlebt habe. Ich bin irgendwann am Nachmittag auf dem Bett gelegen, weil ich ein, zwei Stunden schlafen wollte. Dazu ist es aber nicht gekommen. Kaum bin ich gelegen, hat ein sehr tiefer und heftiger Atem eingesetzt. Das ist noch nicht bemerkenswert. Doch nach ein paar solcher Atemzüge hat sich meine Seele in meinem Körper breit gemacht. Da entsteht dann ein ganz starkes Prickeln im Körper, im ganzen Körper. Also es prickelt vom Scheitel bis zur Sohle, bis in jede Zelle, und das stark. Meine Beschreibung ist natürlich vollkommen unzulänglich, aber das Wort Prickeln beschreibt das körperliche Empfinden am ehesten.

Das Prickeln ist im Grunde angenehm und wohltuend. Aber es ist so stark, so heftig, dass es kaum auszuhalten ist. Etwas sehr Schönes wird so wunder-schön, dass der Mensch im Moment überfordert ist. Das ist wie bei der Freude der Seele. Die ist so intensiv und so stark, dass es sich anfühlt, als ob ich jetzt platzen würde. Ich renne dann hektisch herum, weil ich nicht weiß, wie ich diese Freude ausdrücken kann. Gut, mit der Freude der Seele kann ich mittlerweile ein bisschen umgehen. Mit dem Prickeln der Seele im Körper noch nicht. Nach einer Stunde am Bett bin ich putzmunter und voll energetisiert wieder aufgestanden. Das sind die Dinge, die ich gern in mein Leben integrieren möchte.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das vor dem heurigen Jahr schon erlebt habe. Das heißt nicht unbedingt, dass es nie zuvor passiert ist. In den Jahren 2010 – 12 ist so ungeheuer viel passiert in mir und meinem Leben, dass ich mich an so manches nicht mehr erinnere. Aber in den letzten fünf, sechs Jahren war das hier sicher nicht dabei.

Naja, irgendwie gehört doch alles zusammen. Ich bin am Kern, entdecke Neues und fühle die Seele in meinem Körper. Obwohl dieses Jahr ein paar sehr unangenehme Dinge für mich gebracht hat, ist es in Summe sehr erstaunlich und bemerkenswert. Automatisch lächle ich bei diesen letzten Zeilen. smiley

Kommentare

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Hallo Reiner,

das "prickeln" aus dem letzten Abschnitt kenne ich auch. Es kam das erste Mal vor rund einem Jahr. Erst so alle 2-3 Monate mal, inzwischen eher jede zweite Woche. Ich weiß noch, wie ich am Anfang ganz irritiert war und gar nicht wusste wie ich damit umgehen sollte. Diese Intensität kannte ich überhaupt nicht. Und ja, es ist anfangs sehr schwer auszuhalten.
Inzwischen freue ich mich, wenn ich es erlebe. Ich kann es zwar immer noch nicht wirklich in Worte fassen, aber das macht auch nichts. Umso schöner, dass du es getan hast.

Liebe Grüße
Nicole

Bei mir kommt es in leichterer Form jetzt eher häufig, erst heute wieder. Der Trick dabei ist, keinen Widerstand zu leisten, auch wenn es schwer erträglich wirkt.
Und, naja, so wirklich Worte gefunden habe ich ja nicht. wink

Liebe Grüße

Reiner